Eine Wahnsinns-Geschichte – lässt sich „Elle“, das aktuelle Meisterwerk von Paul Verhoeven, salopp formuliert zusammenfassen. Zu Beginn des Films erscheint kurz der Name Philippe Djian auf der Kinoleinwand – als Garant für ungewöhnlich intensive und packende Geschichten ist Djian einer von Frankreichs erfolgreichsten Gegenwartsautoren. „Elle“ basiert auf seiner Erzählung „Oh …“ und ist im Sinn des Wortes eine perfekte Adaption des Stoffes und doch ein eigenes Kunstwerk. Mit viel Gespür für den Ton des Buches überführen Verhoeven und sein Team (allen voran Drehbuchautor David Birke) den Stoff ins Medium Film und schöpfen dabei aus den sich neu ergebenden Möglichkeiten. Im Mittelpunkt des Geschehens glänzt Isabelle Huppert, an die der Autor während des Schreibens des Buches des Öfteren gedacht haben soll, als Michèle Leblanc – kurz Elle.
Sie, Elle, beschließt nach einer Vergewaltigung nicht zum Arzt zu gehen, sondern die Sache ohne Beteiligung jeglicher Außenstehender selbst in die Hand zu nehmen. Ihren Freunden – konkret ihrem Ex-Ehemann, der Firmenpartnerin/Freundin Anna sowie deren Mann, der gleichzeitig Elles Geliebter ist – erzählt sie die „Sache“ quasi nebenbei beim Dinner und damit ist das Mitteilungsbedürfnis auch schon abgehakt. Denn Elle hält wenig von Sentimentalitäten und möchte sich schon gar nicht in die Rolle des Opfers drängen lassen. Dass es sich bei der Mutter eines erwachsenen Sohnes um eine Frau handelt, die es gewohnt ist sich in einer männerdominierten Welt zu behaupten, erschließt sich den Zuschauern spätestens, wenn man sie in ihrer Funktion als Leiterin einer Computerspielefirma sieht. Es gilt die letzten Szenen eines Spiels – darunter die Penetration der Heldin durch ein mit Tentakeln ausgestattetes Wesen – fertigzustellen. Szenen, die im Buch nicht zu finden sind. Während Elle und ihre Kollegin Anna in Philippe Djians Version eine Filmfirma leiten, bietet der Job der Leiterin einer Spielefirma – einer typischen männlichen Domäne, die noch dazu vor offenkundigen Sexismen strotz – Verhoeven die Möglichkeit die ohnedies von der Brutalität der Vergewaltigung aufgeladene Stimmung durch weitere visuelle Stimmungsbilder zu untermalen.
Ebenfalls auf einen Einfall des Drehbuchautors zurückzuführen ist die Idee ein Bild einzuführen, in dem Elle von Asche überzogen als junges Mädchen vor einem Feuer zu sehen ist. Die Fotografie wurde von einem Journalisten aufgenommen nachdem Elles Vater in einem Anfall religiösen Wahns die Schulkinder der Nachbarschaft ermordet hatte. Eine Geschichte, die das Leben der Frau für immer verändern sollte. Nicht zuletzt da die Medien sie aufgreifen und Elle und ihre Mutter – eine 80jährige von Schönheitsoperationen besessene Frau – bis heute von diversen Leuten für die Taten ihres Vater öffentlich angegriffen werden.
Für die Zuschauer fügen sich die Ereignisse mit fortschreitender Handlung langsam zu einem Gesamtbild zusammen. Den letzten Puzzlestein setzt Elle selbst ein, als sie dem charmanten Nachbarn fast nebenbei von den Vorkommnissen an jenem Tag berichtet. Zu absurd, zu schwer zu verkraften scheint das Erlebte als dass es mit getragener Ernsthaftigkeit vorgetragen werden könnte. Und eben darin liegt auch die besondere Leistung von Paul Verhoeven und Isabelle Huppert – der Film ist permanent durchzogen von einer ironischen Leichtigkeit. Sexuell aufgeladene Szenen schlagen in Gewalt um und umkehrt. Die Grenzen bleiben fließend, die Interpretation den Zuschauern überlassen. Was bleibt ist eine ungewöhnliche Geschichte, die laut Isabelle Huppert an der Grenze zum Märchen angesiedelt ist, und die Menschen die sich darin bewegen. Allen voran Elle, die gelernt hat mutig, eigenwillig, leidenschaftlich und gleichzeitig unterkühlt ihren Weg zu beschreiten. Im höchsten Maße sehenswert.
Elle. Ein Film von Paul Verhoeven. Frankreich/Deutschland 2016. 130 Minuten.
Kinostart: 24. Februar 2017
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